Vor 100 Jahren im November – Ausnahmezustand in Löbau
„Im traurigen Monat November war’s“, begann einst Heinrich Heine sein Gedicht „Deutschland ein Wintermärchen“. Seitdem scheint es, dass die Deutschen explizit in diesem Monat einen harten Drang zur Veränderung in sich spüren. Wie beispielsweise vor 100 Jahren, als Kieler Matrosen das Fanal zu einer Revolution setzten. Bald erreichte sie Sachsen und somit auch Löbau.
Was soll bloß werden?
2. Oktober 1918, vormittags um dreiviertel 10 auf dem Bahnhof Löbau: Soeben war ein langer Militärzug auf dem Dresdner Gleis eingefahren. Die Türen der Mannschaftswagen flogen auf, eine feldgraue Masse ergoss sich peu à peu über den Bahnsteig. Immer lauter wurde das Stimmengewirr, da tönten die ersten Kommandos:
„Kompanie Achtung“, krächzte auf Höhe des Bahnhofrestaurants ein Oberleutnant, „Zugweise auf dem Vorplatz angetreten – marsch, marsch“! Weitere Befehle waren zu hören, doch nicht im Laufschritt, eher langsam und unwillig, formierten sich die Soldaten zu einer langen Kolonne. Von Passanten gesäumt marschierte sie, vornweg die Kapelle des Infanterieregimentes 178, über die Bahnhof- und Nicolaistraße zum Altmarkt, wo Bürgermeister Dr. Schaarschmidt bereits auf sie wartete. Er atmete tief, schon die dritte Kriegsgarnison musste er nun in der Stadt unterbringen – diesmal über 1300 Mann. Er erinnerte sich an den Steckrübenwinter vor zwei Jahren. Zur darbenden Bevölkerung waren zusätzlich Hunderte Soldaten zu versorgen, dazu kam das Lazarett in der Jägerkaserne. Bis hin zum Heizmaterial mangelte es an allem. Wie nur würde es der Stadt diesen Winter ergehen? Aber egal was kommt, er hatte seine Pflicht getan und die Massenquartiere im Wettiner Hof, der Funkenburg, im Schützenhaus, der Tonhalle, im Stadt Warschau und dem Goldenen Schiff vorbereiten lassen. Jetzt hielt er erstmal die Begrüßungsrede, nach ihm der Kommandeur des Bataillons Major Schäffer. Mit Sorgenfalten auf der Stirn sah er den abrückenden Trupps hinterher: Der Krieg war verloren, viele Männer gefallen, die Stimmung unter den Bürgern denkbar schlecht. Dr. Schaarschmidt sah Unheil aufziehen. Was sollte bloß werden?
Ein Sturm fegt durch das Land
Das Unheil begann allerdings weit weg von Löbau. An der 500 Kilometer entfernten Ostseeküste verweigerten in Kiel kriegsmüde Matrosen den Befehl. Ihr Verhalten machte Schule – selbst zur Niederschlagung der Meuterer herbeigerufene Truppen verbündeten sich mit ihnen. Gemeinsam bildeten sie nach russischem Vorbild Soldatenräte, die die Gewalt in der Festung Kiel übernahmen. Angesichts dessen entsandte die Berliner SPD-Führung den Funktionär Gustav Noske am 4. November an die Küste. Euphorisch empfingen ihn die Matrosen. Sie wählten ihn zum Vorsitzenden des Soldatenrates und wenig später zum Gouverneur von Kiel. Zu spät erkannten sie das wahre Spiel ihres vermeintlichen Genossen. Mit dem klaren Auftrag, die alte Ordnung wiederherzustellen, hinterging er die Aufständischen, nahm Kontakt mit der Marineleitung auf und erfüllte trickreich seine Mission. Ein Übergreifen der Revolution auf ganz Deutschland konnte er jedoch nicht verhindern. Ein Sturm fegte durch das Land. Überall rissen Arbeiter- und Soldatenräte die Macht an sich, so geschehen auch in Sachsen am 8. November 1918. Von den Ereignissen überrumpelt trat am Tag darauf der SPDler Philipp Scheidemann spontan auf den Balkon des Berliner Schlosses und rief eine bürgerliche demokratische Republik aus. Der noch amtierende Reichkanzler Max von Baden gab parallel, ohne das ‚Ja‘ des Kaisers abzuwarten, dessen Thronverzicht bekannt. Es galt, die Massen zu beruhigen und vom alten System so viel wie möglich zu retten. Was Scheidemann in dem Moment nicht wusste: Zeitgleich verkündete im Berliner Lustgarten der Spartakist Karl Liebknecht die sozialistische Republik – aus Sicht der SPD-Führung der Supergau.
Rote Armbinden und die Revolution in Löbau
Dem normalen Bürger erschien die Situation verworren. Noch dazu in der Provinz, wo die Nachrichten aus Berlin und Dresden nur langsam durchsickerten. In Löbau staunten die Menschen deshalb nicht schlecht, als sie am Sonntagvormittag, dem 10. November, verschlafen aus den Fenstern blickten. Vom Bahnhof kamen Uniformierte mit roter Armbinde daher. Es waren Mitglieder des Dresdner Arbeiter- und Soldatenrates, von denen einige gleich am Wettiner Platz haltmachten und in den Alberthof eindrangen. Dort wohnten die Offiziere des Ersatzbataillons, welche sie ohne Federlesen für abgesetzt erklärten. Die anderen Soldaten marschierten stracks in die Massenquartiere. Dort verkündeten sie den Landsern, dass die Revolution nunmehr auch in Löbau ausgebrochen sei. Sie suchten geeignete Leute und bildeten unverzüglich einen vorläufigen Soldatenrat. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Ereignis in Löbau. Bereits am Nachmittag durchstreiften Soldaten in kleinen Gruppen die Stadt. Viele von ihnen hatten ihre Kokarden entfernt. Begreifen konnten einige allerdings nicht so richtig, worum es ging. Nur dass es mit der Obrigkeit und dem Barras anscheinend vorbei war. Nach und nach merkten das auch die Arbeiter und gesellten sich zum Militär. Die Löbauer Kneipen erlebten eine Hochkonjunktur: Gemeinsam hieß es hoch die Krüge – die neue Freiheit musste begossen werden!
Versammlung in der Jägerkaserne
In der darauffolgenden Woche überschlugen sich die reichs- und landespolitischen Ereignisse. Die vorläufige Reichsregierung unter dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert akzeptierte die harten Bedingungen der Siegermächte und unterschrieb ein Waffenstillstandabkommen. Des Weiteren telefonierte Ebert heimlich mit dem 1. Generalquartiermeister in Spa General Wilhelm Groener und ließ sich gegen seine Zusage, die militärische Rangordnung in der Armee wiederherzustellen, dessen Unterstützung zusichern. In Dresden indes rief der USPD-Politiker Hermann Fleißner im Zirkus Sarrasani die Republik Sachsen aus, darauf der sächsische König Friedrich August III. nun ebenfalls zurücktrat. Angeblich mit den Worten:
„Dann macht doch eiern Drägg alleene!“
Das taten auch die Löbauer Soldaten. Ihre Räte spuckten auf die Anweisung der Regierung, die Absetzung der Offiziere zu revidieren. Stattdessen kamen am Dienstag in der Exerzierhalle der Jägerkaserne 2.000 Soldaten und Verwundete aus dem hier befindlichen Lazarett zusammen. Insgesamt sprachen 8 Kameraden. Sie alle favorisierten den Aufbau der von Liebknecht proklamierten sozialistischen Republik und erteilten Ebert & Genossen damit eine Abfuhr. Außerdem unterbreitete der Soldatenrat Vorschläge zur ordentlichen Wahl desselben, die von der Masse gutgeheißen wurden.
Ruhe und Ordnung bewahren
Die Wahl des Löbauer Soldatenrates erfolgte am Mittwoch, den 13. November am selben Platz. Zugleich bildeten die Arbeiter ihren Rat, dem sich augenblicklich auch der Bürgermeister unterstellte. Weit hatte er es zu seinen neuen Chefs nicht, denn die Geschäftsstelle des Arbeiterrates lag praktischerweise gleich im Zimmer 9 des Rathauses. Zu seinem Vorstand gehörten Adolf Klinger, Ernst Böhmer, Julius Mehrfort und Gustav Zwahr. Die Garnison vertraten Feldwebel Jonny Metze, Wehrmann Max Zomack und Landsturmmann Karl Mildner. Ihre Adresse war die Bahnhofstraße 19.. Dem Löbauer Arbeiter- und Soldatenrat kam es jetzt darauf an, Ruhe und Ordnung in der Stadt zu bewahren. Mit Patrouillen sowie Wachen sicherten sie öffentliche Gebäude und Betriebe. Jeder Bürger hatte den mit roten Armbinden und Ausweisen versehenen Personen zu gehorchen. Ausschreitungen, Diebstähle oder Plünderungen waren tabu und gelangten sofort zur Anzeige. Zähneknirschend nahm das die Löbauer Bevölkerung hin. Trotz Krieg und des in den letzten Jahren überstandenen Hungers und Leides, standen die Leute dieser neuen Ordnung des Sozialismus sowie einer Volksarmee mit gewählten Offizieren skeptisch gegenüber. Phase um Phase festigte die SPD mit Hilfe der alten kaiserlichen Beamten in Reich und Ländern ihre Macht. Im Dezember tauschte das Heer die Garnison Löbau aus und Mitte Januar 1919 fanden in Deutschland die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung statt. Die Novemberrevolution war zu Ende, die Weimarer Republik entstand. Überwiegend von SPD und Zentrumspartei (Vorgänger der CDU) geführt, konnte sie jedoch die durch Versailler Vertrag sowie den Zusammenbruch des Kaiserreiches hervorgerufenen politischen und sozialen Probleme auf Dauer nicht lösen.
Lage Jägerkaserne Löbau
Über den Autor
Guten Tag
Offizielle, leicht zugängliche Informationen über Löbau in der Zeit von 1918/19 sind ziemlich rar. In den 60er und 70er Jahren bin ich in Löbau zur Schule gegangen, aber es war nur von der grossen Politik die Rede. Haben sich die Soldaten- und Arbeiterräte in Löbau selbst aufgelöst? Wie wurde die Stadt politisch regiert danach während der Weimarer Zeit? Die Anti-Versailles-Kundgebung 1919auf dem Altmarkt, wer hat sie organisiert? Worüber auch nie im Detail gesprochen wurde: wie hat das NS-Regime in Löbau 1933 Fuss gefasst? Im alten Löbauer Kino verkaufte während unserer Kindheit eine
Frau Sühnold die Eintrittskarten. Viel später erfuhr ich, sie sei die Frau des NSDAP-Ortsgruppenleiters gewesen. Wo ist er abgeblieben, und die gesamte Löbauer NS-Elite? Der Dr. Ungethüm? Zeitzeugen leben inzwischen nicht mehr. Wo gibt es Antwort auf solche Fragen?
Freundliche Grüsse
D. Tischer
Hallo Herr Tischer,
danke für Ihren Kommentar.
In aller Kürze:
– Informationen über diese Zeit sind im Stadtarchiv zu finden (man muss aber suchen).
– die Arbeiter- und Soldatenräte in Löbau haben sich, wie anderswo auch, Anfang 1919 von selbst aufgelöst.
– In der politischen Führung der Stadt gab es nach der Novemberrevolution keinen Wechsel. Von 1912 – 1922 war Georg Wilhelm Schaarschmidt und von 1922 – 1945 Otto Wilhelm Ungethüm Bürgermeister.
– Wer die Anti-Versailles-Kundgebung organisiert hat, weiß ich nicht.
– Zur Machtübernahme der Nazis gäbe es viel zu sagen. Nur das: Nachdem Hitler Ende Jan. 1933 Reichskanzler wurde, haben die Nazis viele Sozialdemokraten, Kommunisten und andere verhaftet . Darunter auch den Bürgermeister Ungethüm. Er war damals ein Liberaler und Mitglied der (ich glaube) der DVP. Nachdem er sich bereit erklärt hatte, in die NSDAP einzutreten, entließen sie ihn und er blieb Bürgermeister. Am 7. Mai 1945 floh er mit seinem Dienstwagen aus der Stadt. Zwischen Löbau und Niesky stoppten ihn die Russen und verhafteten ihn. Er kam nach Bautzen, wo er später verstarb.
– Frau Sühnold, das ist richtig, war die Frau des ehemaligen NSDAP-Ortsgruppenleiters und verkaufte später im Kino Eintrittskarten. Die Familie floh mit vielen anderen Löbauern in den ersten Maitagen ins Böhmische. Beim Anblick der dort auftauchenden Russen, zückte Sühnold seine Pistole und erschoss sich vor Frau und Kindern.
Vielleicht konnte ich Ihnen ein wenig weiterhelfen. Bei Interesse lesen Sie auch mein Buch mit Geschichten aus Löbau. Titel: „Verratene Liebe“ (zu finden auf der Titelseite und in der rechten Spalte der Webseite).
Viele Grüße
Arnd Krenz
Lieber Herr Krenz
Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Antwort und für die Zeit, die Sie dafür „geopfert“ haben. Neugierig bin ich auf das von Ihnen empfohlene Buch, das ich mir besorgen werde. Leider haben wir als Jugendliche damals unsere Grosselterngeneration zu wenig zum Erzählen animiert, und dann war es oft zu spät. Und dann kamen irgendwann die Fragen. Irgendwann wollte ich unter anderem mehr über einen Grossonkel erfahren, Arthur Hentschel, der 1918 Mitglied des Soldatenrates in Kiel war, das war der aktuelle Anstoss. In unserer riesigen Verwandtschaft ist er später der einzige Hitlergegner gewesen, der einzige „Linke“. 1933 hatte man ihn im Braunen Haus in Löbau festgehalten, wahrscheinlich misshandelt. Aber darüber wurde auch nach 1945 kräftig geschwiegen. Ihn darauf anzusprechen, damit habe ich zu lange gezögert, plötzlich ein tragischer Verkehrsunfall, und er war tot…
Jedenfalls, Ihnen alles Gute & nochmals vielen Dank!
Ihr F. Tischer